Der (nächste) Berg ruft.
Lukmanier heisst er. Er wartet auf mit… zwei Käseständen. Es müssen zwei sein – so will es unsere Geschichte, unsere Kultur, unser unerreichtes Demokratieverständnis, unsere Ausgewogenheit und unsere wirtschaftliche Blüte, denn der Lukmanierpass ist die Grenze zwischen dem Tessin und Graubünden, zwischen der Svizzera Italiana und der Deutschschweiz. Ein Verkäufer preist seinen Käse auf Italienisch an, und dies nicht mit wenigen Worten, er läuft mir sogar mit Probierproben hinterher („Buonissimo, fantastico!“). Aus Kuhmilch der eine (würzig, da gut gereift), von der Ziege ein anderer (man riecht ganz leise den Geissbock dahinter) und vom Schaf der dritte (wie der Hund dem Meister gleicht der Käse dem Schafwesen). Der zweite Verkäufer, von jenseits des Sprachgrabens (-Berges) ruft herüber: „Chömed Sie no zu mir!“ Bei wem kaufe ich, ich bin doch ein ausgleichender Schweizer? Da müsste ich mich ja festlegen. Also kaufe ich nichts, bei keinem. Probiert habe ich aber bei beiden. Gelebtes Schweizer-Sein.
Es folgt der Oberalp-Pass. Kantonswechsel inklusive, von Graubünden nach Uri. Die Passhöhe wird mit einem Leuchtturm markiert. Falls die Meere steigen (die Weltwirtschaftsforum-Plapperer in Davos blubberen schon längst unter Wasser) kann man hier noch an Land gehen und eine Ansichtskarte oder das letzte Stück Schweizer Käse kaufen. Wir verdienen auch am letzten Touristen noch Geld! Mir kommt das Plakat in den Sinn, das ich zwei Tage vorher im Tessin gesehen habe: „Hier wächst die Zukunft“. Es würde an verschiedenen Orten gut hinpassen. Ins töfflärmheimge(-be-)suchte Wassen zum Beispiel oder an den Ort, den ich eine halbe Stunde später erreiche.
Andermatt. Die Geschichtsforschung hat Hinweise darauf, dass vor einigen Tausend Jahren, als das Mittelmeer noch von Kairo bis nach Uri von Papyrus-Kähnen beschiffbar war, von fast jeder Bergbauernfamilie ein Sohn nach Ägypten geschickt wurde, um sich dort als Pyramidenbauer zu verdingen. (Man war – vor der touristischen Moderne – auf jede Art von Einkommen angewiesen – die Käseherstellung diente mangels Käufern nur dem Eigenverzehr.) Man steckte also meist dem Jüngstgeborenen ein Stück Ziegenkäse und ein Gütterli Kräuterschnaps in die Tasche und ergatterte für ihn im Kleinhafen von Andermatt einen Platz in einem dieser Boote. Ob das Ganze tatsächlich entsprechend der urnerischen Hoffnungen funktionierte, ob es also von der guten pharaonischen Entlöhnung bis zur gesunden Heimkehr mit ägyptischer Braut wirklich klappte, lasse sich nicht sagen. Dass es aber die alte ägyptisch-urnerische Achse noch heute zum gegenseitigen Vorteil gibt, ist Tatsache. Die mehrfache Untertunnelung des Gotthardpasses hat das an der alten Passstrasse liegende Andermatt seinem Schicksal überlassen. Der einzige Output der letzten hundert Jahre war ein geschmeidiger Skifahrer, der heute im Unterland für Brillengläser wirbt. Da soll sich etwas ändern. (Hat sich schon.) Ein später pharaonischer Nachkomme (in den Medien als Unternehmer Samih Sawiris zu finden), seinem Status entsprechend mit Reichtum und Visionen (und Güte) gesegnet, ist daran, das von Steingeröll umgebene Dorf wachzuküssen. „Hier entsteht die Zukunft“. Ein alter Trick: Wenn die Gegenwart düster ist, wird mit Zukunft gelockt. Und diese wird per se als Erlösung angeboten. Wer sagt da nein dazu? Zumal sie schon in der Gegenwart beginnt. Die Bagger und Kräne sind längst aufgefahren. Skigebiete werden erschlossen. „Erschlossen“ – ein schönes Wort für Zerstören. „Hier entsteht für Sie“ – die Murmeltiere können es eh nicht lesen.
Alles ist sauber geplant. Im Dorf steht die Verkaufsstelle der Alpen: „Swiss Alps Sales Center“. Wer schenkt wem? Die Andermatter dem Pharao die Berge – der Pharao den Berglern die Seilbahnen und Luxus-Unterkünfte samt Umfahrungsstrasse. Win-win auf gut Deutsch-Ägyptisch.