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Montag, 7. September 2020

3. Fans und Fanatics

 






Dann geht es hinunter (appe, „in basso“)

 

. . . in den Ticino, in den Kanton, wo die Palmenplage am meisten grassiert, und bald wieder links aufwärts ins Bleniotal. Warum nicht mal auf einen Campingplatz? Wenn er denn nicht zu gross ist und nicht als Vergnügungs- und Konsumpark daherkommt. Er ist okay. Teure Wohn-Zeppelins auf Rädern zu bewundern kann amüsant sein, wenn sie nicht im Militär-Verbund aufgereiht herumstehen. Interessant ist immer, die Ankunft eines solchen Vehikels zu beobachten. Da wird mal als erstes alles betätigt, was elektrisch surren kann: Stützen, Tiefgarage für die Motorräder, Store, Satellitenschüssel. Bei Phase zwei unterscheiden sich die Passagiere: Die einen setzen sich danach vors Haus in ihre Outdoor-Sessel, die andern verschwinden direkt im Hightech-Bauch und werden nicht mehr gesehen. Privatsphäre – man will sich ja schliesslich erholen. Daher auch Fensterblenden „appe“. Ein paar bescheidener Glückliche haben sich auf dem Platz auch eingerichtet, mit Kind und Kegel und Klapp- und Klapperutensilien.

Olivone teilt sein Schicksal mit andern entsprechenden Dörfern, nämlich der Hauptort eines nicht sehr bedeutenden Tales zu sein. Die Hauptstrasse ist das Herz, gesäumt von Garagen, Tankstellen, einem kleinen Supermarkt, wenigen Ristorantes (wovon die Hälfte endgültig geschlossen ist) und einer Raiffeisenbank als modernstes Gebäude. Die Kirche steht am Rand des Dorfes, als wäre sie einmal dorthin versetzt worden – ihr schiefer Turm könnte Beweis dafür sein.  

Wie lebt es sich denn im heutigen Olivone? Ein Gang durch den Friedhof kann diese Frage sicher nicht beantworten, aber eine andere stellen: Wie war es früher? Da die meisten Grabsteine mit einem Bild des Verstorbenen versehen sind, versucht man, aus ihren Gesichtern zu lesen. War dieser ein Witzbold, ein Angeber, oder hat er einfach das Leben genossen? War jener ein Künstler, oder hat er die Rolle des seltsamen Einzelgängers sein Leben lang gespielt? War ein anderer ein Muttersöhnchen und schwul oder der einzige, der auch mal ein Modehaus in Mailand betreten hat?

Und was haben die drei für Frauen gehabt? Die auffälligste Figur des Friedhofs ist eine aufrecht sitzende junge Frau. Nicht sie liegt darunter im Grab, sondern ihr viel zu jung verstorbener  Mann. Sie zeigt ein Bild von ihm und lässt ihn auf einem Täfelchen nochmals wissen, was für Träume im Leben möglich gewesen wären.  

Was hat das danebenstehende Museum zu bieten? Was alle heimatlichen Kleinmuseen auf der Welt zu bieten haben: hölzerne Mistgabeln, blecherne Kochgefässe, züchtige Frauenkleider und einen oberhalb einer verzierten Holzkommode montierten Feuermelder. Und noch etwas natürlich: Gemälde von Buddha- oder Allah- oder Gott-Fanatics, je nach Erdteil. Die Ekstase kann sich, je nach Religionshoheit, verschieden auf den Antlitzen (darf man Gesichtern sagen?) ausdrücken. Bei den christlichen Exemplaren ist der demütige, bittende und verklärte Blick nach rechts oben sehr beliebt. Wie der Blick des Fussballers zum Schiedsrichter, wenn er vergeblich versucht hat, einen Penalty herauszuholen. Nur dass der Fussballer sich gleich anschliessend gestikulierend beschwert. Kein Mea culpa for ever. Entsprechend könnte doch die Grundhaltung des christlichen Glaubens so formuliert werden: Es gilt „Mea culpa for ever“, und wenn es denn mal nicht meine Schuld sein sollte, wird doch auf Penalty entschieden. Und zwar gegen mich. So ein Käse.

Hoch oben auf einer Ticino-Alpe ist es ruhig und friedlich. Der Vater schneidet in der Sonne vor der Hütte dem Buben die Haare. Ein paar Einheimische reden bei … (was hatten sie denn – Kaffee, Bier, Rivella?) in ihrem unverständlichen Ü-ü-Ütalienisch-Dialekt. Ein Paar räkelt sich auf Hochdeutsch im Liegestuhl – hinter ihnen der gemietete trendy-touri-Glaskäfig, vor ihnen nichts als Aussicht. Ein Propellerflugzeug übt in Endlosschlaufen das Kurvenfliegen, und die Kühe vermelden jeden Biss Gras mit schwerem Glockengeläute. Hinter der Alphütte sonnt sich ein Saurer-Berna-Armeelastwagen, wie das Pferd in der Pferdepension. Der Erzähler lässt alles auf sich wirken, auch einen Grappa.

Später, on the road, lässt er auch ein gelbes Plakat an der dunklen Steinwand auf sich wirken: „Obligatorisch Schiessen“. Ohne Punkt und Anführungszeichen, nur:    Obligatorisch Schiessen    Wir wissen, was das heisst, wir haben`s erfunden. Was denken wohl andere Gotteskämpfer aus anderen Weltteilen, wenn sie auf Urlaubsreise um diese Kurve beschleunigen?