Schon das Umherschauen sättigt – in einer andern Welt.
Die Tatsache, dass es an einem andern Ort zu dieser Jahreszeit „wie Frühling“ ist, mag rational erklärbar sein, wirkt jedoch auf mich wie ein Wunder. „Nur“ 1`200 km fahren und in der Nacht gut schlafen auf der Fähre, und dann nicht mehr gelb in den Schnee pinkeln, sondern auf bereits gelbe Wiesenblumen. Ich liebe das Pinkel-Ritual in der Morgensonne. Dazu der Blick hinunter zur Küste, wo sich die Bananengärten befinden. Nicht den ersten, aber sicher den dritten Kaffee kann ich draussen auf dem bequemen Stuhl trinken, wenn die Sonne zu wärmen begonnen hat. Das ist nicht nichts, das ist sehr viel. „Ist es dir nicht langweilig?“ Der Kopf darf sich ruhig mal langweilen, aber das Gemüt! Es ist wie ein Sonnenkollektor. Der sieht flach und langweilig aus, ist aber ganz auf „aktiv“ gestellt. Die bewährte Einstellung: Kopf zwischen Stufe 3 – 6, Gemüt zwischen 7 – 10. Langweilig?
Doch Kreta kann auch anders im Februar. Plötzlicher Temperatursturz von 20 Grad, nahe an den Gefrierpunkt. Der Norden schickt Grüsse vorbei. Mit starkem, kaltem Wind und… Schnee. Hinter mir sind die Berge weiss geworden, um mich herum liegen Schneeflecken in der Wiese. Zwei-, dreimal aufwachen bei 4 Grad im Häuschen. Tagsüber heizen, nachts richtet es die Bettdecke.
Immer mal wieder geht es darum, den Hausbetrieb auf dem gewünschten Level zu halten. Autark stehen, sogenannt. Was brauche ich? Licht, Kochherd, Kühlschrank, Heizung und Wasser. Und – immer Pflicht – ein funktionierendes Fahrrad. Aber wie den Plattfuss flicken, wenn sich in der Leimtube des uralten Flickzeugs (das Preisschild erinnert an das ehemalige Prolo-Warenhaus EPA!) nur noch Luft und kein Leim mehr befindet?
Für den Wasserhaushalt reichen zwei Kanister à 20 Liter (einer reicht für eine Woche – also alle zwei Wochen Wasser holen). Licht und Kühlschrank werden mit 12 Volt betrieben. Die Bord-Batterie sollte nicht unter diesen Wert fallen – also alle drei Tage den Generator eine Stunde lang schnurren lassen. Kochherd und Heizer funktionieren mit Gas. Eine 13kg-Flasche reicht für lange Zeit. Aber: Beinahe jedes Land hat andere Anschlüsse, Übergänge und Gewinde. Oft fehlt mir dann gerade das bestimmte Teil, das es bräuchte. Kreta und die Schweiz lassen sich da nicht einfach verbinden (wie auch beim Wetter nicht!). Also: auf die Fähre, 1`200 km fahren und das entsprechende Übergangsdings kaufen… Oder: 80 km nach Heraklion fahren, eine improvisierte Lösung finden und Euro 3.50.- dafür bezahlen.
Inklusive Stadtrundgang: Alle Denkmäler besichtigen, alle Kirchen, alle mittelalterlichen Häuser und alle romantischen Plätze. Fehlanzeige! Heraklion ist das wirtschaftliche Tor Kretas, und es sieht auch entsprechend aus. Wer Lärm macht, hat Vortritt, wer nicht, hat ein schmales Trottoir. Die Häuser sind rein funktional: Durch Mauern entstehen Räume, fürs Arbeiten und fürs Wohnen. Baustil und -qualität sind eine Einladung für den Zerfall. Eine Stadt, wie es hunderte gibt. Fehlen nur die Mittel, oder fehlt es auch an anderem?
Ich langweile mich aber nicht. Umherschauen, hinschauen, entdecken. In der Ferne tauchen Scheinwerfermasten auf. Wie sieht hier ein Fussballstadion aus? Im Vergleich zu England, zu Armenien, zur Schweiz? In einem Kassenhäuschen sitzt eine Frau. Nein, ich dürfe nicht hineingehen, nur für Leute mit Bewilligung, …Corona… Zur weiteren Erklärung drückt sie mir einen Zettel in die Hand, und sie vertröstet mich auf Mai. Ein Lachen begleitet die Unsicherheit ihrer Aussage. Mir kommt das bekannte Zitat von Kazantzakis, einem Sohn dieser Stadt, in den Sinn: „Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei“. Welche Pandemie hat er vor hundert Jahren miterlebt?
Auch innerhalb der Stadt treffe ich auf ein Stadion. Eingepfercht in die Häuserreihen. Baufällig. Scheinbar mehrfach auf die Schnelle repariert oder ergänzt. (Da hat der Sherif von Transnistrien mehr Geld und sich ein modernes Stadion bauen lassen.) OFI steht auf dem Club-Wappen am Stadion. Die müssen jetzt ohne ihre möglichen 9`000 Zuschauer auskommen. „Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich spiele“. Immerhin in der obersten griechischen Liga. Ich google und bleibe an einem Spieler hängen: Apostolos Diamantis heisst er. Nicht nichts.
Die Tavernen sind geschlossen. Coffee-shops verkaufen über die Gasse. Noch mehr Leute laufen mit Wegwerfbechern herum. Ist nicht nichts. Ich will auch!
Ein Alles-neu-aber-alles-Ramsch-Laden („Dekoritis“ heisst die Krankheit) fragt in seinem Schaufenster, ob nicht der heutige Tag genau der richtige sei, um mit der Verwirklichung seiner Träume zu beginnen. Ich bleibe davor stehen, schaue auf diesen gerahmten Spruch, sehe dann, wie sich in der Fensterscheibe das Treiben der Strasse reflektiert, sehe Menschen vorbeigehen, in der einen Hand das smarte Phone, in der andern einen Pappbecher, höre Mopeds hupen, konzentriere mich wieder auf den Spruch der Träume, kneife die Augen leicht zu, sehe, wie er sich verändert, und plötzlich steht im Rahmen: „Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin da“.