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Dienstag, 8. Februar 2022

Besuch


 

 

 

 

 Blumen und Kälte

 

 

Der kretische Januar könnte auch weniger kalt sein. Und im Wohnwagen könnte es wärmer sein. Am Morgen wenig über 0°, tagsüber helfen sporadisches Heizen mit dem Gasofen und fleissiges Kaffeetrinken. Immerhin: um mich herum ist es grün.

Die Abgeschiedenheit des Platzes, wo ich wohne, hat noch nie jemanden auftauchen lassen.  Kein Smalltalk, kein Streit. Oben schlängelt sich die schlechte Strasse den steilen Hügeln entlang. Selten sieht man einen Pick-up durchfahren – es ist fast immer der gleiche. Es ist Vassili. Man winkt sich aus der Ferne zu oder auch nicht.

Gestern war es soweit: Besuch! Zwei Männer tauchen unten am Weg auf. Ihr Schritt ist langsam, und sie scheinen ins Gespräch vertieft zu sein. Wie sie näher herankommen, mustere ich sie. Der eine könnte ein Einheimischer sein, allzweckgekleidet, keiner der wilden Kreter zwar, aber doch bärtig und durchaus zur knorrig-wüchsigen Umgebung passend. Sein Kopf ist rund und etwas nach vorne gebeugt, die Beine sind ziemlich kurz, dafür die herunterhängenden Arme auffällig lang. Sein Begleiter sieht ganz anders aus. Er ist gross, eher kantig, bleichgesichtig, die ergrauten Haare korrekt mit Seitenlocken frisiert, und mit seinem weinroten Anzug , aus dem oben ein Stehkragen herausschaut, würde er vielmehr als Statist auf die Bretter eines alten Theaterstückes passen als auf diesen vom Regen durchnässten Feldweg.  Wo wollen die beiden hin? Da, wo mein Wohnwagen steht, endet der Weg. Zu mir? Sie bleiben stehen, so wie man stehenbleibt, wenn wegen eines Hindernisses am Weg das laufende Gespräch unangenehmerweise unterbrochen wird. Wir tun das, was man in dieser Situation tut: Wir begrüssen uns. „My name is Charles“, stellt sich der bärtige Primatenmensch vor. „Und ich heisse Immanuel“, sagt der Gelockte weniger locker und auf Deutsch. „Ja, es gibt viele Engländer und Deutsche, die sich hier in Kreta niedergelassen haben“, sage ich um ihnen vielleicht etwas zu entlocken. Nichts. Der Weg bricht hier ab und unser Gespräch auch, nur das scheint sie zu beschäftigen. „Möchtet ihr etwas trinken?“, frage ich. Tatsächlich nickt der spontanere der Beiden und fragt gleich: „Do you have a beer?“ „Hast du auch Tee?“, fragt der Gelockte leicht zögerlich. Wie oft am Nachmittag lockern sich die Wolken auf, und wir sitzen auf den Campingstühlen vor dem RollingSweetHome. „Als einziges Wesen hat der Mensch das Geschenk des Verstandes, er kann denken und urteilen und eben menschlich handeln“, sagt Immanuel, während er wohldosiert Zucker in den Tee gibt. „Aha“, denke ich. „Und wie gut nutzt er diesen Verstand?“, denke ich auch. Immanuel erwartet eh keinen Einwand von mir, er richtet sich an Charles und fährt fort: „Und das Denken macht den Menschen selbstständig und auch unabhängig von Gott. Er kann per se humanistisch sein.“ „Wie seltsam und unselbstständig mir doch das Denken der Menschen zuweilen vorkommt“, geht mir durch den Kopf. Charles greift sich mit einem seiner langen Arme eine zweite Dose Bier und sagt: „He could.“ „Ja, er kann!“ „Yes, he could!“ „Aha!“, denke ich. Immanuel fährt weiter und erklärt, dass die Vernunft die geistige Fähigkeit sei, Zusammenhänge zu erkennen und zu beurteilen um sich demnach sinnvoll zu verhalten. Diese Würde, wie er es nennt, habe als einziges Lebewesen nur der Mensch. Endlich nimmt er mal einen Schluck Tee aus dem (unwürdigen) Campingbecher. „Schöne Worte und schlüssige Philosophie“, denke ich, „aber irgendwie allzu schön und schlüssig.“ Wie ist es denn mit dem differenzierten Denken beim Nachbarsstreit am Gartenzaun? Gerade bei eigentlich kleinen Auseinandersetzungen werden ja die Dinge oft nicht auseinander-gesetzt, so dass es zu absurdesten Argumentationen kommt. Wenn sich Leute angegriffen oder in Frage gestellt fühlen, zeigt es sich, ob sie abwägen, beurteilen und angemessen reagieren können (eben mit Verstand – verstehen!), oder ob sie die unlogischsten Behauptungen quasi als Produkt ihres Denkens heranführen. Sind es die Emotionen, die dem möglichen Denken im Weg stehen? „Zusammenhänge erkennen und sich demnach sinnvoll verhalten“… Ach, Immanuel. „Yes, he could“, hat Charles vorhin gesagt. Ich bin gespannt, ob er noch mehr zu sagen hat. Ich schaue ihn an. „What should I say?“, beginnt er und steckt sich noch ein paar Nüsse in den Mund, „I appreciate Immanuel`s thoughts, but I can only emphasize what the evolution shows.” “Evolution?”, fragt Immanuel, “nicht Revolution? Da bin ich wohl 100 Jahre zu alt um eure neuen Begriffe zu kennen.“ „Weisst du, das mit den Tieren, bei denen sich immer die Starken durchsetzen, die mit den kräftigsten Zähnen und die mit den schnellsten Beinen“, wage ich Immanuel selbstsicher zu erklären. Er begreift und fügt an: „Also dann auch die mit dem bestausgebildeten Verstand“. „Richtig“, sagt Charles, „insofern bestausgebildet als er zum Überleben dient. Und dazu ist nicht in erster Linie die Fähigkeit des differenzierten Denkens gefragt. Wenn ein Mensch von einem Rascheln hinter dem Busch überrascht wurde, war es am besten zu denken, es sei ein Löwe und nicht lange zu differenzieren, was das Rascheln sonst noch für Ursachen haben könnte. Die Vernunft ist ein Produkt der Evolution. Sie und der Verstand als ihr Werkzeug sind auf unser bestmögliches Überleben angelegt. Wenn wir etwas registrieren, machen wir uns ein generalisierendes Bild davon, das uns passt. Auch wenn es ein verzerrtes ist – Hauptsache wir kommen den Löwen davon!“ Charles schwenkt die leere Bierdose und deutet amüsiert auf den Schriftzug darauf. (Das verbreitetste Bier hier im Land der alten Denker heisst Mythos.) Immanuel sagt im Konjunktiv, er nähme gern noch einen Tee. So bleiben wir eine Weile schweigend sitzen. Immanuel ziemlich steif, Charles völlig locker. Wie fühle ich mich? Etwa so, wie wenn ich auf die Strasse hinaus trete, nachdem ich einen eindrücklichen Film gesehen habe. Die Ziegen am Hang gegenüber glöckeln und meckern, und der Bock ruft herüber: „Sind noch Fragen?“ „Ja, eine habe ich noch: Was spielen denn die Gefühle für eine Rolle?“ „Eigentlich keine grosse“, antwortet Charles, „Vernunft, Verstand und Gefühl nehmen gemeinsam wahr und entscheiden gemeinsam. One system, that`s it“.

Ja, that was it. Die Sonne ist am Untergehen, und es wird trotz des Feuers kühl. Immanuel möchte sich keine Erkältung holen und mahnt zum Aufbruch. Wohin gehen sie? Wo wohnen sie? – Totgeglaubte fragt man nicht nach ihrer Adresse.

„Sind noch Fragen?“, blökt der Schafbock wieder. Nein. Aber eine wichtige Antwort habe ich erhalten: Es ist, wie es ist. Ab heute bewiesenermassen.