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Sonntag, 13. März 2022

Moskau retour

 




 

Eine Kopfreise

 

Darüber, wie der Kopf denken könnte und was ihn daran hindert, diese Fähigkeit auch auszuüben, habe ich beim Besuch von Immanuel Kant und Charles Darwin Wichtiges erfahren. Inwiefern der nüchterne Schluss „Wir könnten, aber wir können nicht“ beruhigend oder hilfreich ist, sei dahingestellt. Was sicher gut tut, ist, dass es Leute gibt, die es besser können als andere. Dies hilft mir in meiner kleinen Umgebung und aktuell auch in der ganz grossen, die uns durch den Kriegsangriff auf die Ukraine ein Einordnen und eine Art von „Verstehen“ abverlangt.

Die Ukraine kenne ich durch meine Reise von 2019 durch dieses grosse Land, von Lviv zum Dnjepr, nach Mariupol und dem Asowschen und Schwarzen Meer und der Krim entlang wieder westwärts nach Odessa. Auch die aktuelle Reise führte mich wieder ein Stück durch die Ukraine (siehe die drei Kapitel vom August letzten Jahres). Mein Eindruck war immer ein spezieller: Aufbruch und Offenheit, verbunden mit grosser Hoffnung. In Mariupol habe ich (habe ich immer noch?) einen Freund. Hier ein Auszug unseres Whatsapp-Austausches zwischen Mitte Februar und dem 5. März:

o    How are you? Are you worried?

ooo    Hi man! I am not bad! So far everything is all right… Greetings from Mariupol

ooo    Boom boom Mariupol! We hear massive boom boom every hour.

ooo    I enjoy staying in Ukraina, I wish we stay in Ukraina. I don`t want to be Russia.

o    Wir sind traurig und wütend. Wie geht es dir und deiner Familie?

ooo    Gott sei dank alle sind am leben! Sie hören nicht auf zu schiessen.

o    Are you in contact with other people? Can you go out of the house?

ooo    I don`t go outside, I`m scared. Boom boom. I`m scared, I don`t want to go in the war. I`m 26 years old…

o    What do you see when you look out of the window?

ooo    Snow… The centrum is not under fire. But no people around.


o    Was soll ich dir wünschen…?

ooo    Hoffnung…

ooo    No way out… We stay here and pray…

o    Let`s believe in drinking together an Ucrainian Cognac one day!

ooo    Ok, let`s believe!

ooo    One Flugzeug drops one bomb very near. That was scary for us!

o    When you look out of the window now?

ooo    People walking, searching food and water, walking with empty bottles.

ooo    No way out. If we get out of Mariupol they will kill us. We continue stay here…

. . . . . . seither erscheint nur noch ein “Zuletzt online 5. März“ . . . . . .

Vernunft und Denken heisst auch, die Wirklichkeit so wahrzunehmen, wie sie ist. Was natürlich philosophisch und psychologisch genauer betrachtet eine naive Aussage ist. Wenn ich mich aber in die Situation meines Freundes versetze, dann nützt ihm ein philosophischer Diskurs darüber gar nichts, allenfalls eher eine psychologische Untersuchung und Diagnose der Wahnvorstellungen des Schreibtischtäters unter den Zwiebeltürmen.

Freiheit. – Bedrohte Freiheit. – Unterdrückte Freiheit. – Diktatur. – Einstehen für Freiheit. – Kämpfen für Freiheit. – Denken in Freiheit! Da gäbe es doch in der Schweiz (wo sonst?) die Spezialeinheit! Genauer in der Innerschweiz. Wo die Zwiebeln Bölle heissen. Diese um verschiedene Ecken herum (oder um keine Ecke herum?) Denkenden haben sich den Namen „Freiheitstrychler“ gegeben. Für die ukrainischen Leser: Trychler sind Männer, die den folkloristischen Brauch pflegen, im Karneval schwere Kuhglocken tragend durch das Dorf zu marschieren. An einem Joch, das sie quer über die Schultern tragen, hängen jeweils zwei dieser schweren Glocken .It`s a hard man`s job! Solche Männer, von der Gesinnung her nicht als fortschrittlich und weltoffen geltend, haben in der Corona-Zeit ihr Denken eingeschaltet. Ihr Denken…  Gründliches Nachdenken bei Tee und Mineralwasser über das Thema Corona und über die staatlich erlassenen Regulierungen haben sie zum Schluss geführt: Unsere Freiheit ist bedroht! Oder gar: Die Diktatur hat schon begonnen! Dann war nur noch ein letzter Denkschritt zu bewältigen: Wir müssen uns wehren! Gegen die Unterdrückung der Freiheit! Also liessen sie sich weisse Leibchen (made in China?) drucken mit dem keinen Zweifel offen lassenden Aufdruck „Freiheits-Trychler“ (nicht auf Chinesisch). Aber was für ein klägliches Symbol für Freiheit stellen sie dar? Frei-willig heben sie das Joch auf ihre Schultern, so dass sie unter der ganzen Last nur noch schwerfällig gehen können. Ja, das mit dem Um-die-Ecke-herum-Denken…


Doch trotz meiner Zweifel an der Sensibilität ihres Denkens stellen sie für mich eine gewisse Hoffnung dar. (Was hat sich mein Freund aus Mariupol gewünscht? – Hoffnung!) Also, ihr Freiheits-Trychler, brecht auf! Ladet die Joche und Kuhglocken auf eure Traktoren und fährt Richtung Osten! Die Ukrainer werden euch hereinlassen. Von der Grenze aus empfehle ich euch die Route über Odessa (habe ich als offene und lebendige Stadt erlebt, mit klassischen Konzerten in den Parkanlagen), dann die Krim streifend nach Mariupol (gemäss meinen Informationen kann man nicht mehr hinaus aus der Stadt, aber hinein müsste gehen). 700km Traktor fahren in der Ukraine wird euch sicher gefallen. Erklärt allfälligen russischen Kontrollposten, ein Joch und zwei Kuhglocken seien keine Waffen, ihr würdet auf ihrer Seite stehen und zeigt ihnen die Empfehlungsschreiben von René Fasel und Roger Köppel. Vorsichtshalber würde ich die T-Shirts verkehrt herum tragen, damit der Aufdruck „Freiheit“ nicht zu Missverständnissen führt. In Mariupol müsst ihr euch einfach auf einen weiten Platz stellen (es gibt jetzt immer mehr davon – und wegen der zerstörten Häuser auch weniger Ecken!), und dann legt ihr einfach los! (Ich habe von dort schöne Erinnerungen an Strassenmusikanten und Eis schleckende Zuhörer.) Da es wohl kein Publikum geben wird, das bei euch irgendetwas schleckend stehen bleiben wird, läuft ihr auch nicht Gefahr, dass ihr gefragt werdet, welche Diktatur und welche Freiheit ihr denn genau meint. Mariupol soll für euch mehr ein Warm-up sein. Noch etwas über Unterkünfte: 2019 waren alle Hotels voll. Sie waren ausgelastet mit Armeeangehörigen, die ein paar Kilometer weiter hinten die Grenze zum Donbass sichern mussten. Diese Hotels müssten eigentlich jetzt freie Kapazitäten haben.

Hinter dieser (vormaligen) Grenze wird es dann mehr und mehr fetzig für euch. Ihr werdet anerkanntes, befreites Gebiet betreten. Die Diktatur in der Schweiz wird endgültig weit weg sein. Da ich die Gebiete um Donezk und Luhansk nur durch unsere Lügenpresse kenne, würde ich mich sehr über Ansichtskartengrüsse und heimgebrachte Fotos freuen. Es muss erstaunlich sein, was für eine Kultur von diktaturfreiem Denken und sozialem Wohlstand hier mit Unterstützung durch den grossen Bruder entstanden ist.

Anschliessend werdet ihr als Höhepunkt eurer Reise in Russland einziehen. Nachdem ihr ja in der Schweiz ein bisschen Diktatur geschnuppert habt – und jetzt ändere ich meine Terminologie! – werdet ihr in einer viel eindrücklicheren Diktatur angekommen sein. Jetzt gilt es ernst, ihr Glockenschüttler! Lasst aber die Glocken zunächst zugedeckt auf den Traktoranhängern. Tuckert einfach gemütlich durchs Land. Schaut euch einfach um in den Dörfern und Städten, lasst es auf euch wirken, denkt wie üblich nicht viel, trinkt mal da und dort einen Schnaps, geht euch ab und zu etwas besorgen, vielleicht auch in einem Amt. Lasst testmässig manchmal das Wort Freiheit („Svoboda“) fallen. Sobald ihr ein bisschen Russisch gelernt habt, könnt ihr damit kurze und prägnante Sätze bilden, wie ihr es euch auch auf Deutsch gewohnt seid. Auf diese Art wird hoffentlich etwas ins Rollen kommen, und eure Diktaturerfahrungsgier wird sicher befriedigt werden. Seid aber bitte nicht zu forsch! Ihr müsst es bis nach Moskau schaffen! Gefährdet den Höhepunkt nicht, indem ihr schon vorher in einem Kerker verschwindet. Jedenfalls nicht alle.

Und dann – das grosse Finale! Ihr werdet mit Traktorgeratter auf den Roten Platz fahren. Bleibt zuerst ruhig. Tut nichts. Atmet nur tief durch. Erinnert euch dabei an den Beginn eurer Reise, an das Land, wo alles klein und niedlich ist – auch die Diktatur, die ihr beklagt. Wenn euch im Nachhinein die damals benutzten grossen Glocken der Freiheit als eben zu gross erscheinen (hellere Ziegenglöcklein hätten`s auch getan), dann wischt diesen Zweifel weg und besinnt euch eurer Mission! Ihr seid mutige und denkende Männer! Legt euch gegenseitig euer Joch auf die starken Schultern, befestigt die schweren Glocken daran und legt dann los! Lasst eure Freiheitsschwengel wüten! Lasst den weiss polierten Konferenztisch dort oben erzittern und erbeben durch die markdurchdringenden Freiheitsschläge eures Kuhschmuckes! Erhebt eure mutigen Stimmen und ruft dazu „Svoboda! Svoboda!“.

Und dann…? – Kommt zurück in die Schweiz und beginnt zu denken! Ich wünsche euch, dass es für beides nicht zu spät ist, und es nicht schon vorher „Boom boom“ mit euch gemacht hat.