Seiten

Samstag, 19. März 2022

Lieber Antares

 






Mir geht es nicht wie sonst.

 

In Kreta ist es deutlich weniger warm als es in dieser Jahreszeit üblicherweise ist. Oft gibt es heftige Niederschläge und es weht ein stürmischer Nordwind. Den Morgenkaffee kann ich nicht immer draussen trinken. Ich musste mir in der Apotheke ein Mittel gegen Erkältung und Grippe besorgen. Zudem plagen mich Zahnschmerzen. Der griechische Zahnarzt sagt, es handle sich um eine grössere Geschichte… Dann gibt es noch etwas, das mich beschäftigt und meine Vitalität dämpft: Ich weiss nicht, ob du noch lebst.

Unser letztes Treffen war vor knapp zwei Jahren, unser letzter Message-Kontakt vor knapp zwei Wochen.

Ich blende weiter zurück – 2019 – an der Kasse eines Supermarktes in der Schweiz. Hinter mir stehen zwei junge Männer an. Sie reden Russisch zusammen. Gleich nach der Kasse verteilt eine Degustationsdame Bier . Wir werden reichlich beglückt. Und wir kommen ins Gespräch, das wir draussen weiter führen.

Du sagst, dass ihr (du und dein Bruder) aus der Ukraine kommt und dass eure Sprache Ukrainisch sei. Da ich kurz vor einer Reise in die Ukraine stehe, habe ich einige Fragen an dich. Du kannst ausreichend Deutsch und Englisch und erklärst du mir, woher ihr kommt, nämlich aus Mariupol. Du zeigst mir auf dem Handy, wo das genau liegt, und du beschwichtigst mich mit meiner Frage, ob es zu riskant sei, meine Reise bis zur letzten Stadt vor dem abgespaltenen Donbass auszudehnen. Ihr hättet eine Zeitlang Probleme gehabt, aber „sie“ hätten sich zurückziehen müssen. Jetzt sei es ruhig und sicher. Ich soll mich bei dir melden, falls ich in die Nähe komme.

Was euch beide in die Schweiz geführt habe, frage ich. Du erzählst, dass ihr nach München geflogen seid, dort ein Auto gemietet habt und jetzt in Süddeutschland und in der Schweiz auf der Suche nach gebrauchten Computern und Telefonen seid. Die Geräte würdet ihr zuhause reparieren und verkaufen. Ein gutes Einkommen. Dies sei nicht euer erster „Business-trip“. Ich merke, dass du dich im St.Galler Rheintal und in Liechtenstein gut auskennst.

Zwei Monate später führst du mich durch Mariupol. Das Erste, das mir auffällt (wegen der Grösse auffallen musste), ist ein eingehülltes Gebäude, und auf der Hülle prangte die Aufschrift: „Mariupol is Ukraine!“  Entspannt geniessen wir die Spaziergänge durch die Stadt, durch den Markt (ich kaufe Rosinen aus Usbekistan – für dich nichts Besonderes), und wir schlendern dem Strand des Asowschen Meeres entlang. Das Zentrum ist sommerlich lebendig, Glace-Stände, Karrussell, du willst, dass ich mich bei einer Schiessbude versuche, Strassenmusik, Cafés, Bars und hübsche Restaurants. Wie Ferien in einem italienischen Hafenort.  Manchmal fährst du mich mit deinem alten, klapprigen Auto herum, bei dem man wissen muss, wie es sich überhaupt noch bedienen lässt. (Bei einem späteren Besuch in der Schweiz wirst du dir ein besseres besorgen.) Wie in einigen osteuropäischen Ländern wird auch in der Ukraine guter Cognac hergestellt, und du hast meine Liebe zu dieser Art von Traubensaft mitbekommen. (Später wirst du mir in St.Gallen schmunzelnd eine Flasche davon überreichen!)

 


Während den paar Tagen in Mariupol erfahre ich von dir, wann und wo du Deutsch gelernt hast. Du bist nämlich als etwa 20-Jähriger das erste Mal in die Schweiz gegangen – mit dem Ziel, Asyl zu erhalten. Das muss also in der Zeit gewesen sein, als die Kämpfe im Donbass begonnen haben und Mariupol davon betroffen war. Nach den geltenden Aufnahmebedingungen war deine Existenz in der Ukraine nicht bedroht, und dein Asylgesuch ist abgelehnt worden. (Inzwischen hat dich die Geschichte traurigerweise eingeholt.) Du hast aber dadurch einige Zeit in der Schweiz verbracht, Deutsch gelernt und eben auch die Schweiz kennengelernt.  So ist deine Verbindung zur Schweiz entstanden, sowie deine Idee, deinen Lebensunterhalt in den nächsten Jahren als Elektroschrott-Tourist zu bestreiten.

Und jetzt, Antares, friere ich im zu kalten Kreta und lese die Nachrichten über die Ukraine und die besonders prekäre Situation in Mariupol. Da unser Kontakt gekappt ist, erfahre ich nichts von dir. Sicher ist aber, dass ihr dort mehr als nur friert. Ob dein Haus noch steht? Ob du zu essen und zu trinken hast? Ob dir vielleicht die Flucht gelungen ist? Ob du noch lebst? – Ich hoffe, dass du diesen Text eines Tages wirst lesen können!

 

 

Am 3. März hast du in einer Whatsapp-Nachricht geschrieben, du wollest nicht in den Krieg gehen. – Nun ist der Krieg zu dir gekommen.

Am 4. März wollte ich dir hilflos und naiv etwas Hoffnung machen und schrieb dir, dass ich mir fest vorstelle, wie wir eines Tages zusammen einen Cognac trinken. Deine Antwort war:

„Ok, let`s beleive in it!“