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Donnerstag, 5. Mai 2022

Kretas Strassen sind nicht vermint

 



 

Endlich kommt die Wärme.

 

„Dort hinten willst du campen? Ich erkläre dir, wie du hinkommst.“ Das sagt Janna, die Frau des Ladens von Milatos. Und einen Raki könne sie natürlich auf morgen besorgen. Man muss wissen, dass guter Raki nicht gekauft, sondern besorgt und in gebrauchten Pet-Wasserflaschen geliefert wird. So werde er auch unter Umgehung der Gesetze palettenweise als Wasser nach Athen geschifft.

 

Ostern – traditionell und modern. Man kriecht aus den Löchern, und die kleinen Mädchen tragen weisse Strümpfe. Im Dorfladen möchte ich zwei Zwiebeln kaufen. „Wir haben keine.“ Also holen sie welche in der Taverne. Geschenkt, natürlich. Und obendrein kriege ich eine Flasche Wein und Kekse. „Chronia polla!“ Immer dieses „Chronia polla“. Zu Weihnacht, zum Neuen Jahr, zu Ostern, zum Geburtstag, zum Tag der Arbeit, zum Nationalfeiertag, zum Gedenktag an Heilige oder Halbheilige – immer wünscht man sich „Eine gute Zeit“. Dahinter steckt auch Kalkül: Freie Feiertage! Ein grosses Hupkonzert nähert sich. Eine Kolonne von Pickups fährt Ladungen von Büschen durchs enge Dorf. Eine lokale Ostertradition. Sicher waren früher Esel damit beladen. Die modernen Zeiten haben den Kretern die Pickups gebracht. Diese sind steuernfrei, da sie landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge sind. Und prüffrei, solange sie vier Räder dran haben. Auch die Fahrer sind nicht alle über jeden Zweifel erhaben. Da wirkt wohl immer noch das Esels-Gen. Mit dem Esel war`s einfacher um eine enge Ecke zu kommen.





1000 Höhenmeter hinauf über die Berge, welche die Lassithi-Hochebene umgeben. Unterwegs Land-Art bewundern, schroffe Steine der Jahrtausende, dürre Büsche ohne Alter und Neues von Menschenhand.



 

Hier oben wachsen keine Olivenbäume. Hier werden Kartoffeln und Gemüse gepflanzt. Ich steuere direkt die Cantina von Jorgos und Georgia an. Sie ist noch nicht geöffnet, aber das Zeltdach und die Tische sind bereit. Mal eine andere Art von Bleibe. Das Frühstück serviere ich mir an Tisch 1, das Abendessen an Tisch 4. Nach ein paar Tagen kommen sie mit dem Grillwagen und die Saison wird eröffnet. Souvlaki, Lammkoteletts… Wenigstens Hackfleisch-Burgers sind machbar für den Zahnlosen.







 

Und täglich die Meldungen aus der Ukraine. Tägliches Entsetzen, tägliche Fassungslosigkeit. Täglich eine kleine Hoffnung. Es ist besonders, wenn man von all diesen Menschen dort einen einzigen persönlich kennt. Antares gibt allen andern ein Gesicht. Wo sind die Tausenden Einwohner von Mariupol? Oder eben: Wo ist Antares? – Am 28. April, nach 54 Tagen Funkstille, kriege ich ein Whatsapp!



 

Am Tag darauf telefonieren wir, während ich in einer rauen Ewigkeitslandschaft neben einem Schafskadaver stehe. Er befinde sich in Uzhgorod, an der slowakischen Grenze. Mehr will er nicht sagen. Der letzte Schritt stehe noch bevor. Er lacht. Er habe zu tun. Nein, er sei nicht allein. Mehr sagt er nicht. In ein paar Tagen würde ich mehr erfahren.

 

Tatsächlich! Am 2. Mai – zwei Monate nach der Beteuerung, dass wir eines Tages zusammen einen Cognac trinken werden – kommt die Botschaft:



 

Und heute ein Telefon. „Hallo Liechtenstein!“ Antares schwenkt die Kamera im Raum. Auf und neben den Doppelstockbetten stellt er mir vor: „Das ist mein Vater, meine Mutter ist gerade nicht hier, das ist mein Bruder, das ist auch mein Bruder, das auch, das ist meine Frau Dania, meine Schwester ist drüben bei der Mutter“. Eine Schwester und ein Bruder seien (noch) in der Ukraine. Warum? Meine Fragen beantwortet er nur teilweise. Oft sagt er: „Das erzähle ich dir, wenn wir uns sehen“. Ob sie wirklich bei Uzhgorod über die Grenze sind? Mit zwei alten Autos seien sie gefahren. Frauen und Männer getrennt. Warum? Um aus Mariupol herauszukommen, habe man sich eine Woche lang in eine Schlange stellen und warten müssen. Dann seien sie durch „russisches“ Gebiet über verminte Strassen gefahren. Ja, auf der Strasse könne man die Minen erkennen. Nach dem Korridor zwischen russisch besetztem und von der Ukraine gehaltenem Gebiet seien sie freudig begrüsst worden. Mehr erfahre ich nicht, weder über die Route (da sind sicher mir bekannte Orte darunter), noch über Erlebnisse. „Das erzähle ich dir alles… beim Cognac“. Meine letzte Frage ist, warum sie Liechtenstein als Ziel gewählt haben. Weil Liechtenstein sehr ruhig sei.   Smiley!