Hier darfst du durch
Auch wenn der als „Public footpath“
gekennzeichnete Weg völlig überwachsen und unpassierbar ist. Das Jahrhunderte
alte Wegrecht gilt. Ob blau- oder nur rostblütig. Hier aber darfst du nicht
durch. „Private“. Die Wege sind vorgegeben.
Der prominenteste Ignorant dieser Wegrechte (und
Wegpflichten!) heisst Harry. Er stösst sie alle vor den Kopf, von seiner
Grossmutter bis zu seinen Klatschspaltensaugern. Er hat genug.
Seine Frau Meghi hat er zu ihren Eltern nach Übersee
geschickt. Für sich selber hat er einen alten Wohnwagen erstanden – mit dem
letzten ihm noch zugestandenen Royal money. Dann ist er losgefahren. Sein Ziel
ist es, der ihm drohenden Krone zu entkommen.
Ein kurzes Abflauen der
Winterstürme hat er ausgenützt, um Dover zu erreichen und auf
nächtlicher, rauer See das französische Ufer zu erreichen. In drei Tagen ist er
auf Nebenstrassen unerkannt südwärts durch Frankreich gefahren. Zum Übernachten
hat er sich versteckte Plätze in den Wäldern ausgesucht.
In Spanien hat er Sonne und Wärme vorgefunden. Das hat ihm
schon mal gut getan. Es war so warm, dass er sich aus den ältesten Jeans, die
er mit wenigen andern Kleidern mit auf die Reise genommen hatte, mit der Schere
eine kurze Hose gemacht hat. Dabei wurde er sich auch des Selbstbetrugs
bewusst, den seine Landsleute betreiben, indem sie so tun als gäbe es keine
Jahreszeiten und kein Wetter und indem sie im kältesten Wind ein „Nice to meet
you“ aus ihren kurzen Hosen lächeln. Wohltuend war für ihn auch, dass er
überhaupt kein „Nice to meet you“ mehr zu hören bekam, und schon gar nicht
gefolgt von der Heuchelei eines „See you later“. Es war befreiend für ihn,
diesem eigentlich gemeinten „Du bist mir egal“ und „Ich werde dich nie mehr
sehen“ nicht mehr begegnen zu müssen.
Harry spürte, jetzt ging es nicht mehr um „nice“ oder nicht
„nice“, sondern nur noch um das, was ist: Statt Krone und Kälte jetzt Sonne,
Hügel, Büsche, guter Geruch, sich eine Mahlzeit zubereiten, viel lesen und
Allein-Sein.
Das war nicht immer einfach für Harry. Er hat sich zwar von
seinem frostigen Prinzenland gelöst und war sich weiter sicher, dass er sich
nie eine Krone aufsetzen lassen möchte, und doch war halt jetzt alles anders.
Ihm gefiel es allein zu sein, aber es war gleichzeitig ein Abtauchen-Müssen und
eine Bedingung für das Gelingen seines Vorhabens . Was ist nun selbst gewählt
und was nicht?, fragte er sich manchmal. In solchen Momenten des Sinnierens war
er froh, dass er sich vor der „Flucht“ noch einen Herdenschutzhund aus dem
royalen Stall geholt und mitgenommen hatte. Und dessen Augen haben ihm oft und
zutiefst ehrlich gesagt: „Nice to meet you!“
- „See you now!“, kräuselte er dem Tierchen jeweils hinter die Ohren.
Um der aufkommenden Langeweile und der unterschwellig
spürbaren inneren Unruhe zu begegnen, hat er einige Male den Aufenthaltsplatz
gewechselt. 80 Kilometer weiter, unterwegs Brot, Milch, Kartoffeln, Reis, aber
auch Wein und Tabak gekauft. Sich neu eingerichtet. Beim Morgenkaffee eine
andere Aussicht gehabt, auf andere Bäume und andere Hügel. Den Wohnwagen aber
immer gleich ausgerichtet: Hauptseite gegen Süden, gegen die Sonne. Entspannen
– die Royal Crown ist weit weg…
Doch als er bei einem seiner Spaziergänge plötzlich vor
einem grossen Gate stand, das ihm den Zutritt zum sich dahinter befindlichen
Niemandsland mit klaren Worten verbot, fühlte er sich sogleich zurückversetzt
in sein enges Land. Er verstand zwar als Engländer die fremde Sprache auf dem
Schild nicht, aber er ist ja konditioniert auf die Reiz-Codes „Gate“ und
„Sign“. Er ertappte sich beim Gedanken, sein Land könnte ihm nachsetzen und ihm
mit solchen Symbolen seine Ausweglosigkeit vor Augen führen. Eine Verschwörung?
War ihm die Crown auf den Fersen?
Er begann, solche Annahmen zu verscheuchen, indem er sich
mit seinem Mobile Phone abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen
versuchte. Er empfand es als Erleichterung, mit Anderem verbunden zu sein. Er
las Beiträge über Hundeerziehung, er las die aktuellen News, und er las über
Fussball (seine Tottenham Hotspurs verloren klar gegen RB Leipzig). Dabei wurde
er auch mit der spanischen Sprache konfrontiert und lernte einige Wörter wie
„futbol“ oder „perro“.
Seine Verschwörungs- und Verfolgungsängste wurden jedoch
durch seine Vireless-Kontakte weiter geschürt, denn er, der sich auf der Flucht
vor der britischen „crown“ befand, stiess immer öfters auf den Begriff
„corona“, meist in bedrohlichem Zusammenhang mit Wörtern wie „peligro“,
„muerte“, „en todas partes“. Also wusste man in Spanien von seiner
Corona-Flucht.
Sollte er sich stellen? Sollte er zurückkehren unter die
Fittiche der Royal Crown? – Er entschied sich anders.
Harry ist jetzt in Frankreich. Und er ist ruhig. Er schläft
auch gut. Er hat genügend Lebensmittel dabei. Mit dem Hundefutter zusammen sind
es viele Kilos. Es geht ihm gut, und er fühlt sich sicher. Er hat sich einen
einsamen Platz am Canal du Midi ausgesucht. Wenn er – selten noch – viral geht
und dabei aufs Wort „couronne“ stösst, glaubt er, dies sei der Fluss, den er
auf dem Weg überquert hat. Gut so.
Da er weiss, dass er mit seinem blauen Blut zur
Crown-Risikogruppe gehört, ist es seine Absicht (er weiss auch, dass er sich
einiges zumutet), sich für lange Wochen diesem Leben der Zurückgezogenheit zu
verschreiben. Er, der immer mal wieder das Bedürfnis hatte, für eine Weile
allein zu sein und dies auch geniessen konnte, spürt jetzt, dass sich das
Allein-Sein anders anfühlt, wenn es nicht (nur) selbstgewählt ist. Er spürt
auch klar, dass seine tägliche Befindlichkeit nicht mehr zur Hauptsache von
seiner überstürzten Abreise aus England geprägt ist, sondern davon, wie er die
Zeit mit sich allein verbringt.