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Freitag, 17. April 2020

Der Kanal lebt!













„Dann schreib doch über fiktive Begegnungen!“


“…wenn du keine realen hast.“ Schwierig. – Da müsste ich ein besserer Schreiber sein. Es ist wie beim Kochen: Einen Gemüseeintopf krieg ich schon hin, mit etwas griechischem Joghurt verfeinert und mit Curry zum kreativen Höhepunkt gekitzelt. Wer mich mag, sagt dann, es sei doch (!) gut. Aber ein höheres Niveau liegt nicht drin, denn diesem müsste ein differentierterer Geruch- und Geschmacksinn zugrunde liegen. Und ein bisschen mehr Kenntnis.  So habe ich mich seit 66 Jahren selbst zum Opfer meiner Lebenshaltung gemacht, (bei „Opfer“ hätte ich noch Anführungszeichen setzen wollen), die da heisst: Ich weiss und kann ja Einiges, und das soll reichen, um ein zufriedenstellende Leben zu gestalten.
Und jetzt habe ich den Dreck! Ich hocke in der Caravantäne, koche Eintopf um Eintopf,  werfe jeden vierten Tag zur Stromversorgung den Generator an (wenn er plötzlich nicht mehr laufen würde, könnte ich ihn nicht reparieren), schaue stundenlang in die gleiche, flache Landschaft hinaus und rede mir dabei ein, ich sei am Nachdenken. Über Nietzsche? Über Houellebecq? Über Benzinmotoren? Oder halt einfach über den nächsten Eintopf… Nicht einmal den Glücklich-mach-Bastelanleitungen, die uns in diesen harten Tagen über 4G oder 5G erreichen, bin ich gewachsen. Schere, Leim und Farbstifte hätte ich dabei.
Und jetzt soll ich über fiktive Begegnungen schreiben! „Guten Tag, Herr Nietzsche, fleissig am Philosophieren?“. Er steigt vom Pferd, umarmt es kurz und heftig und wendet sich mir zu: „Nenn mich doch Friedrich, hier an diesem öden Kanal“. „Mögen Sie… möchtest du einen Plastikteller Eintopf mit mir verspeisen?“. „Nein, danke, ich habe mir soeben ein Red Bull zugeführt. Aber sag mir, es beschäftigt mich eben gerade, wie sieht für dich der vollendete, wohlgeartete Mensch aus?“ Zack! Und schon ist das trennende Beil zwischen uns. Wie komme ich da raus? Reagiere ich scheu und feige? „Ja, wenn ich das wüsste“. Oder Flucht nach vorn? „Ist die Offside-Regel deiner Meinung nach mehr Fluch oder mehr Segen für ein attraktives Fussballspiel?“. – Das geht nicht. Auch fiktiv nicht. Er steigt aufs Pferd und reitet von dannen. Ja, von dannen. Bin ich schon jemals von oder nach dannen geritten? Der tut`s.
Oder Houellebecq : „Salut, mon petit salaud! Riecht anal heute, der Kanal, n`est-ce pas?“. Hat er das soeben gesagt oder ich? – Ich bin schon verwirrt, es geht von Anfang an nicht. Zum Glück kann ich mich leicht herausziehen, es ist ja nur fiktianal.
Dritter Versuch: Ein Benzinmotor kommt den Kanal herauf (herab?) getuckert. Er klammert sich hinten an einem kleinen Boot fest. (Warum ist mir klar: Er würde sonst untergehen. Aber warum weiss ich nicht: Benzin ist doch leichter als Wasser..., die Begegnung ist schon schwierig, bevor sie stattfindet.) Als das Tuckern an mir vorüberzieht, sehe ich, dass im Bötlein eine bunt gekleidete Frau sitzt, mit wallendem Haar natürlich, und fröhlich auf einem Akkordeon spielt. Ich schaue, ich lausche, sie hält kurz inne und winkt. Und das Schifflein tuckelt und örgelt vorbei und verschwindet als farbiger Punkt. Das wäre eine Begegnung geworden. Wenn das Motörli punktgenau abgesoffen wäre.

Ach, das geht nicht mit dem Fiktiven. Ich kann kein fiktives Pferd umarmen. Überhaupt: Das Fiktive und das Reale vermischen sich. (Es grüsst Herr Nietzsche.) Das Akkordeon-Schiffchen ist nämlich wirklich erschienen. Und verschwunden. Und wirkt nach. Als Kurztraum.

Wie die Episode mit der Höflichkeit, mit der „politesse“. (Warum nennt man eine Polizistin in der Deutschschweiz eine „politesse“?) Sie war wirklich höflich. Mit dem Polizeiwagen stoppte die Policière direkt vor meiner Haustüre. Woher und was und wie wollte sie wissen, und ob es mir gut gehe. Dann nahm sie eine Querflöte vom Rücksitz, welche zwischen Unfall-Signalen und Handschellen lag, setzte sie an ihren geschminkten Mund, erweiterte den Abstand auf das Doppelte (ein Blas-Instrument!) und…  Nein, aber als kleine Aufmerksamkeit liess sie mir die Telephonnummer der Gemeinde da. „Si jamais vous avez… et bonne journée!“ , und stob mit Blaulicht davon. Leider verpasste ich es, ein Erinnerungsfoto zu machen, doch auf meine telephonische Nachfrage hin stellte mir die Mairie (ah, so hiess sie) ein passendes Polizeiarchivbild zu. 



Zu einer anderen Begegnung, die mehr als eine Prise Surrealität enthielt, kam es in der örtlichen Pharmacie. Ein anderer Kunde wurde gerade bedient. Ein kauziger Typ, wie mich von schräg hinter ihm dünkte, und nicht, was man gepflegt nennt. Auch nicht freundlich, mehr ungeduldig und anklagend brachte er sein Anliegen vor. Offensichtlich ging es um Schutzmasken. Eine hatte er – komisches Bild, wie ich ihn von der Seite sah – an einem Ohr hängen. Er gestikulierte wild und zeigte dabei auf seine Maske. Die Apothekerin versuchte erfolglos auf ihn einzugehen, kam aber dabei kaum zu Wort. „Oreille!“, verstand ich immer wieder, wobei er auf sein anderes Ohr zu deuten schien. „Ne tient pas!“, verstand ich auch, das südfranzösische „Ne tieng pas!“. Als er einsah, dass es die Art Masken, die er wollte, nicht gab, drehte er sich barsch um und verliess den Laden. Die Apothekerin bemerkte meine leichte Verwirrung und sagte aufatmend: „Il est con. On le connaît dans le village“. Manchmal verschenke er Zeichnungen und Bilder. Voller Farbtupfer. „Schauen Sie, das Bild dort, mit den Sonnenblumen! Ich habe es ihm zuliebe aufgehängt“. „Ja, etwas naiv, aber vielleicht gilt das übermorgen als grosse Kunst!“, lachte ich.  



Jürgen ist Deutscher und war mal Fussballer. Er muss wohl etwa fünfzig sein. Fast täglich ist er hier am Kanal als Jogger unterwegs. Grosse Klappe, dachte ich, als er das erste Mal ein paar Minuten vor dem Wohnwagen stehen blieb. Selbstbewusst und witzig, dachte ich nach dem zweiten Mal. Er sei hier auf Zwangsurlaub, erklärte er. Freunde hätten ihm und seiner Frau ihr Ferienhaus angeboten. Aber viel lieber würde er schon drüben sein und etwas zu tun haben. Drüben? Er habe eine spannende Aufgabe in England übernommen. Aber jetzt gehe ja wegen dem Lockdown alles in die Hose. Sein schnelles Erzählen unterbricht er mit lautem Lachen, dabei seine Zahnreihen zeigend. Schnorren – lachen – Zähne zeigen. Als Psychotherapeut wird er sicher nicht arbeiten in England. Aber unterhaltend ist er. Und scheint wirklich etwas von Fussball zu verstehen. Wenn ich sage „Real Madrid!“, sagt er „Barcelona!“. Wenn ich sage „Manchester…“, lässt er mich nicht mit "City" oder "United" ausreden, sondern kontert gleich mit „Liverpool!“. Ich versuch`s mit „Young Boys und Basel!“, er ruft sofort „Sankt Gallen!“, und seine Zähne blitzen auf. Wo er denn früher gespielt habe, möchte ich wissen. Er sei kein bekannter Spieler gewesen, und auch kein einfacher. Er bringe mir morgen ein altes Sammelbildchen mit, er habe noch einige.



Auch Erika Fatland habe ich hier kennengelernt. Sie ist Norwegerin. Obwohl sie verheiratet ist, lehnt sie sich ziemlich weit aus dem Fenster. Geografisch gemeint. Sie reist gerne. Allein. Und schreibt darüber. Das Buch von ihr, das ich dabei habe, hat den Titel „Die Grenze“. Ein Wort, das in Zusammenhang mit einer gewissen Seuche gerade eine Blütezeit erlebt. Ihr Buch meint aber schlicht die Tausende von Kilometern lange Grenze Russlands. Dieser reist sie entlang, ohne Russland selber zu betreten. Sie reist der Reihe nach durch die an Russland grenzenden Länder. Von Osten nach Westen: Nordkorea, China, Mongolei, Kasachstan, Aserbaidschan, Georgien, Armenien … bis zurück nach Norwegen. Geschichtliche und politische Aufarbeitung inklusive. Mein Haupteindruck ist: Ein nationalistisches Feuerchen legen, dann geht`s los! Dann werden alle zu Opfern und Tätern. Die Merkiten, die Burjaten, die Uiguren, die Turpaner, die Inguschetier, die Osseten, die Seldschuken, die Abchasen, die Tataren, die Tuwiner, die Kaschgarer, die Dsungaren, die Kalmücken, die Tscherkessen, ….  
Chapeau, Erika, und erzähl deinem Mann nicht von allen Situationen, in denen du dich befunden hast!



Die zwei Männer, die im obgenannten Buch die Hauptfiguren sind (gemessen an der Anzahl fiktiver „dislikes“ pro hundert Seiten) , heissen Stalin und Putin. Durch die Lektüre begleiten sie mich inzwischen schon einige Zeit, so dass ich beschloss, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Es war mir klar, dass ein persönliches Treffen kaum möglich sein würde, wenn auch die Vorstellung, das Duo für ein, zwei Tage in meinem Wohnwagen zu beherbergen, verlockend wäre. Ein weiteres Hindernis, dass die Verlockung an einer realen Ver-lock-ung und Unmöglichkeit scheitern könnte, war meine Idee, mit den beiden als junge Männer sprechen zu wollen.



Um doch wenigstens einen Versuch unternommen zu haben, habe ich den Jungs per e-mail ein paar Fragen mit der höflichen Bitte um Beantwortung zukommen lassen:

Was möchtet ihr mal werden, wenn ihr gross seid? 
Was würdet ihr auf euer T-shirt drucken lassen?
Welches ist euer Lieblingslyriker?
Ruderboot oder Motorrad?
Habt ihr eine Freundin?
Habt ihr Interesse an der Politik?
Denkt ihr, dass es möglich wäre, den Aralsee trockenzulegen?
Was hält ihr von Esotherik?
Barcelona oder Real Madrid?
Könnt ihr euch vorstellen, ein einfaches Leben in der Weite Sibiriens zu führen?
Seid ihr zufrieden mit eurem Äusseren?
Möchtet ihr mal in einem Zirkus auftreten? – Als was?
Seid ihr von der Mutter oder vom Vater aufgeklärt worden?
Besucht ihr lieber ein Museum oder ein Mausoleum?
Was macht ihr weniger gern: Schuhe putzen oder Klavier üben?
Wie viele Menschen würdet ihr deportieren, einsperren oder ermorden lassen, wenn ihr König wärt?
Habt ihr Angst vor Spinnen?
Bis jetzt hat mich noch keine Antwort erreicht.


Die eindrücklichste Begegnung hatte ich mit Dato Vanishvili. Dato ist über achtzig und befindet sich in Quarantäne. Aber anders!
Er lebt mit seiner kranken Frau und einem Sohn zusammen in einem abgelegenen Haus in der Nähe der Stadt Gori in Georgien. Ich nehme an, dass er kein Bewunderer des dort geborenen Josef, des grossen Stalin, ist. Und er würde wohl, so wie ich vor einiger Zeit, ziemlich kopfschüttelnd durch das dortige den Duce verklärende Museum gehen. Und er ist sicher nicht für den Bau eines Putin-Museums.
Dato Vanishvili lebt seit einigen Jahren nicht mehr in Georgien, aber immer noch im selben Haus. Er sitzt fest. Mit seinen wenigen georgischen Lari kann er nichts mehr kaufen. Sie sind wertlos. Denn: Dato und seine Frau wohnen jetzt in Südossetien.
Als er eines Morgens aus dem Fenster sah, musste er feststellen, dass die südossetische Stacheldrahtgrenze über Nacht um ein paar hundert Meter verschoben worden war und neu unterhalb und nicht mehr oberhalb von seinem Haus verlief. Welcome to South Ossetia!
(2008 nahm der Druck Russlands auf die georgische Provinz Südossetien zu. Es wurden Dörfer angegriffen, und Georgiens Gegenwehr wurde nach wenigen Tagen gebrochen, worauf Russland Südossetien als „unabhängigen, souveränen Staat“ anerkannte…)
Die Geschichte läuft ja oft wie ein Märchen ab. Nur sind Anfang und Ende vertauscht. Die Osseten und die Georgier lebten vorerst friedlich zusammen. Bis der böse Wolf die nationalistischen Flaggen aufzog…
Ich getraute mich damals nicht, Dato am Zaun zu besuchen. Das Grenzgebiet ist „heiss“. Er erhält aber manchmal Besuch. Durch die Stacheldrahtrolle lassen sich Hände schütteln. Seine Frau kommt nicht mehr zum Zaun. Ihr Gesundheitszustand lässt es nicht mehr zu.
Warum Dato Vanishvili? – Ach ja, zum Thema „Quarantäne“.


Siehe auch: