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Dienstag, 28. April 2020

Kopfreisen










Der Kanal ist geperrt


Die Hausboote liegen angetäut am Ufer. Ihre Bewohner sind in ihren Liegestühlen auf Deck und lesen Bücher. Nach fünf Wochen höre ich zum ersten Mal ein Schiff kommen.

Es ist ein grosser Schlepper. Genau auf meiner Höhe steht er still. Ich lese „Transports et Travaux Fluvieux“. Dann geht es sehr schnell. Ein langer Kranarm wird ausgefahren, packt den Wohnwagen wie ein Spielzeug, hievt ihn auf die Ladefläche, und schon bewegt sich das Schiff wieder fort.




Weil kaum etwas passiert, macht die Phantasie aus einem seltenen Halbereignis gleich ein grosses Scheinereignis. Kopfereignisse, Kopfreisen. Auch rückwärtsgewandt bis in die Kindheit. Ich erinnere mich an meine Modelleisenbahn. Eine schöne, kleine Anlage. Eine verkleinerte Welt  – niedlich – heil.

Bergli, Brücklein, Bächlein, Häuslein, Kirchlein, Kühlein, Schäfchen und Menschlein. Alles in klaren und reinen Farben. Rote Hausdächer, grüne Wiesen und Geranien am Güterschuppen. Der Zug, das Züglein, hat keinen Fahrplan einzuhalten – es umkreist ja bloss die kleine Modell-Welt.

Die Menschlein, die diese Welt wohlplatziert bewohnen, sind alle lieb, bzw. sie können nicht böse sein.  Sie hüten die Kühlein, sie stossen Kinderwägelchen, sie winken dem Züglein, sie sitzen auf Mäuerchen oder sie stützen sich im Gärtlein auf ihr Schäufelchen. Alles wirkt lieblich.

Auch wenn zwei beim Bahnhof-WC ein Säcklein Kokain austauschen, ein Autölein ein Kindchen überfahren oder einer hinter dem Büschchen eine polnische Erntehelferin missbrauchen würden, es wäre nur „en miniature“. Hinten auf der Anlage, dort wo das Bächlein herunterfliesst, ist auch ein kleines AKW vorstellbar mit einem Kühltürmchen daneben. Mit Watte wäre der aufsteigende Dampf dargestellt, so wie ich früher ein Wattestücklein in den Kamin der Dampflokomotive gesteckt habe. Das Bordellchen am Rande des Dörfchens wäre innen mit einem Lämpchen ausgerüstet, so dass die roten Vorhänglein gut zur Geltung kämen.

Überbauungen mit seelenlosen Wohnblöcken gibt es nicht, weil kein Platz dafür vorhanden ist. Vielleicht gibt es eine kleine Garage mit einer roten und einer gelben Tanksäule, und der kleine Mechaniker sähe bei der Arbeit gleich zufrieden aus wie der Nachbar, der gerade sein Pferdchen striegelt. Und klar, auf einem der zwei Hügelchen müsste noch eine 5G-Antenne stehen (ein silbrig angemaltes Streichhölzchen) – die alte Telephonkabine beim Bahnhof ist in die Auslage des dortigen Blumenlädelchens integriert.

Warum es keinen Lebensmittelladen gibt, weiss ich nicht, aber ich nehme an, dass die Leute die Anlage jeweils verlassen, um zu einem ausserhalb gelegenen Einkaufszentrum zu gelangen.

Damit stellt sich eben eine wichtige Frage diese heile Modellanlagenwelt betreffend: Die Frage des Begrenzenden und Eingegrenzten.

Konstruktionsbedingt ist es eine Holzplatte, die zur Stabilität mit einem Rahmen versehen ist. Und dieser Rahmen ist des gordischen Pudels Knoten.  Er ist gegeben und fest. Das Züglein kann diesen Rahmen nie verlassen, um ins nächste Dorf oder gar noch weiter zu fahren. (Und das mit dem Einkauf ausserhalb habe ich mir nur so zurecht gelegt und nie wirklich beobachtet.)

Bringen wir nun zur Erweiterung der ganzen Problematik den zwölfjährigen Knaben ins Spiel. Er ist der Herr über diese Welt, er lässt den Zug mit Güterwagen mal links herum alles umkreisen oder mal mit den zwei Personenwagen rechts herum. Ohne Stress und Taktfahrplan. Er kann willentlich ein schweres Zugunglück herbeiführen oder auch jemanden unkompliziert ohne Haltestelle auf dem Hügel aussteigen lassen. Er kann den Zaun der Kuhweide verschieben, und er bestimmt, ob das Kirchlein mitten im Dorf steht. (Stand es übrigens nicht, sondern dort, wo später das AKW zu stehen gekommen wäre. Also müsste auch die Vergewaltigung der Polin hinter der Kirche und nicht hinter dem AKW stattgefunden haben. Wenn überhaupt. Denn der der Tat Verdächtigte konnte nie zur Rechenschaft gezogen werden, weil es auf Modelleisenbahnanlagen in den 60-er Jahren ausser der Kirche kein Gericht gab.)




Nun müsste eigentlich beim spielenden Bub irgendwann der Wunsch entstanden sein, den Rahmen seiner Modellwelt übertreten zu können, bzw. er könnte erkannt haben, dass diese idyllische Welt gar beschränkt ist und das im Kreis fahrende Züglein einen absurden Service Public erfüllt.

Natürlich wäre eine mögliche Folge solcher Gedanken ein Grossprojekt der Modelleisenbahnwelt geworden, und schon die Planung und die Sicherung der Finanzierung hätten einige Hürden nehmen müssen. Der erste Bauschritt jedoch, das Abschrauben des Rahmens für eine Erweiterung, wäre eine kleine und mehr symbolhafte Sache gewesen. Danach hätten in einer weiteren Bauetappe ein paar bisherige Schienen umverlegt werden müssen, um den Anschluss für weitere Schienen ausserhalb herzustellen. Eine Streckenführung über den Teppichrand hinaus mit einer Kehre unter dem Bett und der Wand entlang zurück wäre vorstellbar gewesen. Theoretisch. Sowie auch die Finanzierung über Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke und zusammengespartes Taschengeld.

Gescheitert ist das Projekt nicht daran, dass es nicht bewilligt wurde, sondern daran, dass es nie eines war. Der potentielle Bauherr hat zwar den engen Rahmen seiner Welt mit der Zeit schon als beschränkend empfunden, hat diese aber als seine Welt erlebt und akzeptiert, so dass die Idee, diesen Rahmen zu sprengen, gar nicht aufkommen konnte.    

Gibt es eine Fortsetzung dieser Geschichte? – Es gibt zwei:
Das Projekt wurde eine Generation später nachgeholt. Mit meinem Sohn Simon zusammen ist 40 Jahre danach eine grosse Anlage entstanden.
Ein anderes Projekt ist ein sehr persönliches: Den einengenden Rahmen zu erkennen und zu erweitern.    Ein Rolling Sweet Project…