Verena Brassel hat heute Geburtstag!
Je t`embrassel, mit mehr als dem vorgeschriebenen
Abstand, aus dem Minervois – mit seinen Hügeln, unspektakulär schönen Dörfern,
Wäldern, Bächen und Reben. Es riecht gut hier.
Du bist überrascht, weil wir uns ja gar nicht kennen, uns
noch nie begegnet sind und noch nie voneinander gehört haben. Das hindert dich
aber nicht daran, heute Geburtstag zu haben.
Du bist eines der vielen, kleinen Wunder. Daher gratuliert
dir die gesamte Besatzung des RollingSweetHome, der Reiseleiter, der Chauffeur,
der Koch, der Raumpfleger, der Reiseberichterstatter und das Schicksal (der
kretische Hund Grameno, was eben auf Deutsch Karma und auch Ausgestossener bedeutet)
zu deiner Wiege ganz feste.
Ich stelle mir vor: Mai 1949 – Nachkriegsaufbruchskind. Beim
nächsten Aufbruch 1968 schon 19 Jahre alt – Peace, love and music? Zumindest
peace, nehme ich an. Und heute? – besteigst du den Zug, weil du weisst, wo es
den besten Grappa zu kaufen gibt.
(Ich möchte dich ja nicht von deinen Gewohnheiten abbringen,
aber auf dem Splügenpass, ennet der Grenze, in Montespluga, steht die Enoteca
la piu alta d`Italia mit sicher 50 Grappasorten zur Auswahl. Mit Postauto zu
erreichen, Bergwandern mit Polenta-Hütte, am Abend im Ristorante richtig gut
essen, Übernachtung auch möglich, dann mit der Beute ab nach Hause!)
Auch der Grappa gehört ja zu den kleinen Wundern. Wie auch
der Geruch hier an meinem momentanen Aufenthaltsort. Vom Boden her röchelt der
wilde Rosmarin, und oben lüfteln die Pinien. Das Pfeifen der Vögel macht die
Stille greifbar, die Motocross-Bubis erinnern einen, wie der Muezzin, zweimal
täglich an die Endlichkeit des Seins (und an das kleine Wunder des
Benzinmotors).
Da die Rebhühner einem doch nicht gerade bien cuit in den
Mund fliegen, gibt es fünf Kilometer talwärts einen grossen Supermarché, wo
auch die unmaskierten Kunden (ich war nie ein Fasnächtler – und du?) Eier in
der Bio-Sechser-Schachtel, viereckige Milch mit einer abgebildeten Kuh darauf
und Hühnerschenkel, die vor lauter Freilauf den Heimweg jeweils kaum mehr
fanden, kaufen können. Dazu sehr günstig. Ein kleines Wunder?
Du wunderst dich sicher auch: Nicht alle Wunder sind
wunderbar. Ein knusprig gebratener Pouletschenkel ist es doch, rein
gaumenmässig. Aber etwas bleibt störend zwischen den Zähnen haften. Mit dem
Zahnstocher pieksen wir dann unser Gewissen. Ich weiss, ein Wort mit dem Glanz
der Abgeschliffenheit, wie die alten Steinstufen eines Tessiner Bergdorfes.
Sagen wir also kürzer: das Wissen. Wir wissen um unsere Widersprüche – diese
sind die wahre Wundertüte!
Die zarte, neugierige, lust- und lebensfreudige Seite der
Widersprüchlichkeit lässt sich ja gut ertragen. Man kann sich räkeln in ihr,
man kann ihr auch mal die Sporen geben oder ihr einfach Danke sagen. Aber der
fucking andere Pol! Vom Schlachthof bis zum Schlachtfeld, von der Dummheit zur
Arroganz, vom Gartenzaunbollwerk zu den Aggressionsförderanlagen… Die
Lebensfreude möchte wegschauen. Dem Denken ist es aber nicht wohl dabei. Die
Widersprüchlichkeit wirkt, und der Allmächtige kann nichts dafür, dass er bloss
eine Erfindung von Antwort suchenden Verwirrten und Verirrten ist. Was macht
sie mit dir, the Widersprüchlichkeit of the life, Verena?
Vor vielen Jahren hat mir mein Freund Bernard eine Episode
aus seiner Rotkreuz-Tätigkeit erzählt. Wenn man mitten in den Hotspots des
Leidens und des Grauens war, im damaligen Peru oder El Salvador, in Ruanda, in
Afghanistan, in Somalia und Haiti, dann ist man sehr unmittelbar mit der Frage des
„Und was macht es mit mir?“ konfrontiert.
Es war in einem südamerikanischen bürgerkriegsgeplagten
Land. Bernard „durfte“ ein Gefängnis mit politischen Gefangenen „begutachten“. Heute,
mehr als 30 Jahre später, lebt die Erinnerung in ihm weiter. Und in mir als
Lehrstück des Lebens.
Die befestigte 0-Stern-Herberge für die Insassen, viele
gepeinigt und gefoltert, wurde für den Gast aufs Bestmögliche herausgeputzt.
Alle erhielten eine Mahlzeit, serviert auf weissen Tischtüchern. Wie in einem
alten italienischen Film: Tutta la grande famiglia sitzt im Innenhof bei Speis
und Trank. Nur dass viele ausser den Padrones blaue Flecken um den traurigen
Blick hatten. „Und dann, wenn du zurückfährst im weissen Jeep?“ „Der Weg führte
über eine fantastische Bergkette. Oben musste ich anhalten, habe eine Kassette
mit Verdis Rigoletto eingelegt, laut aufgedreht, bin ausgestiegen und habe
die Abhänge hinunter auf die Welt geschaut und habe gestaunt. Es war das Hier
und Jetzt“.
Die Kassiererin im Supermarkt ist gut geschützt. Durch eine
Plexiglaswand und mit Mundschutz und einer Art Helmvisier vor dem Gesicht, so
dass ich ihre Frage erst beim dritten Mal verstehe, nachdem ich durchs näher
Herangehen den Kopf an der Schutzwand angeschlagen habe: „Vous avez la carte du
magasin?!“. Situationskomik – ihre Augen lachen.
Der greise Mann im Eckhaus sitzt immer am Fenster. Fast wie
im Piloten-Cockpit. Durch ein Fenster sieht er geradeaus, durch das andere nach
links Richtung Strasse. Die Fenster sind ziemlich hoch angesetzt für den im
Lehnstuhl Sitzenden. Der Pilot sieht das
Land nicht, nur den Himmel. Ich bleibe stehen und winke ihm. Keine Reaktion –
er ist ganz auf den Flug konzentriert.
Hast du das Video über Dato Vanishvili im Kapitel „Der Kanal
lebt“ gesehen? Ich komme nicht von ihm los. „What should I do? Kill myself?”,
fragt er in einem andern Video. „Ich habe kein Brot, ich habe nichts” und
„Wohin soll ich denn gehen? Was kann ich denn tun?“ , fragt er über den
Stacheldraht. Bizarr, absurd und doch real. Wunderlich?
Ist es zynisch, wenn ich alles, was erstaunlich und
unerklärlich ist, als Wunder bezeichne?
Immerhin, denke ich, ist es nicht zynischer als alles mit dem Willen des Big
Master Almighty zu erklären. Es geht mir darum, das Unerklärliche als
unerklärlich (oder als nur begrenzt erklärbar) anzunehmen, ohne es mit
Gebetsmühlen in saubere und leichter tragbare Mehlsäcke zu packen.
Ich möchte mich weder als Generalsekretär bei den Zynikern,
noch als Chef-Ideologe bei den Nihilisten bewerben. Da ist mir meine
Teilzeitstelle bei den Ethikern und Sozialkritikern lieber. Denn: Die „Wunder“-Haltung
schliesst eine persönliche Meinung und ein persönliches Engagement keineswegs
aus. (Siehe Bernard!)
Ach, liebes Geburtstagskind, es hat doch so schön angefangen
mit der Gratulation von hinter den
sieben Hügeln. Leichtfüssig sollte diese
dich erreichen. Und jetzt habe ich dich
in die Tiefe von hochfahrigen Versimplifizierungen gezerrt. Oder doch in die Höhen
des tieffliegenden Normalverbrauchers?
Als Erklärung des Erklärlichen möge dir dienen:
Meine Reise hat mich das winterlich kalte England erfahren
lassen, hat mir ein warmes Aufatmen in Spanien gewährt und mir dann in
Frankreich am Canal du Midi für neun Wochen die Narren-Corona aufgesetzt. In
England hat mich Freund Egon für zehn Tage besucht (eine schöne Abwechslung,
nicht nur wegen der besuchten Fussballspiele der dritten Liga), und erst
kürzlich habe ich am Canal du confinement die Hausbootkapitäne Bea und Paul
kennengelernt (Danke nochmals für die exzellenten Tomatenspaghetti – ein
kleines und veganes Wunder!).
Der Rest war Alleinsein. Gutes Alleinsein. Inklusive das
kleine Wunder der langen Weile. Und inklusive Telephone und Wozzäpps der
Allerliebsten aus der Schweiz, aus Rumänien, aus Spanien, aus den Philippinen,
aus Armenien, aus Kirgistan (Dank an euch und Dank ans Internet, und speziellen
Dank an my sister Felicity – du weisst wofür!). Bald geht`s, nach fünf Monaten,
zurück nach Sao Galo.
Wie es gemeinplätzig immer wieder heisst: „ Jede Reise führt
dich zu dir selber“. Es stimmt! . . . und
zu kleinen Wundern . . . , gell Verena. – Happy Birthday!