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Montag, 7. September 2020

1. Von Güllen ins Muotatal

 

 

 

 

 

 

 

Keine Grüsse aus Kirgistan.

 

 Geplant war ja eine Sommerreise in die Stan-Länder. Dort hätte ich Berge angetroffen und Alpen, Alpenleben und Alpenjurten und Alpenkäse. Stutenyakkäse oder so.

Jetzt halt, wegen des Corona-Käses, Pragelpass statt Pamir-Highway. 100km Anreise ins Zielgebiet statt mehrere Tausend. Und doch: Viel Alpenschönheit und viele Alpenkäse-Degustationen.

Pragelpass: Samstag und Sonntag gesperrt, „Auf Ihren Besuch freut sich Familie Gwerder-Imholz“. Butter und Käse inklusive.

Das nächste Ziel ist das Muotatal. Kanton Uri. Nein, Kanton Schwyz. Doch die Urner Stiere haben vor Jahren dafür gesorgt, dass der hinterste Teil des Tales zu ihnen gehört. Das Balmer Grätli hoch oben wäre eine natürlichere Grenze gewesen. (Die türkischen Stiere haben den Armeniern auch den ganzen Ararat weggeschnappt.) Dass solcherlei Händel bis heute auch Auswirkungen auf die Käseproduktion und -qualität haben, wäre eine zu übertriebene Behauptung. Der Käse scheint sich verschmolzen zu haben wie der Dialekt – das Schwyzer wie das Urner Vieh muss nach dem Sömmern „appe“ in tiefere Lagen.

Man nimmt sich nicht nur Land, man verschenkt auch welches. Die schmalste und schattigste Stelle des Tales ging an den Herrgott. Er hat auch eine eigene Postauto-Haltestelle gekriegt, einen Holzunterstand, falls er mal ins Tal hinunter muss aufs Bezirksamt oder wegen einer neuen Schneeschaufel. Oder falls er am Unterhaltungsabend des alljährlichen Muotitaler Alpchäsmarktes teilnehmen möchte.

Der Tourismus hält sich in Grenzen. In der hintern Talhälfte gibt es keine Ortschaft mehr, kaum Unterkünfte und keine Souvenirläden. Die Kindergummiburg langweilt sich. Schon beinahe von einer tourismusfeindlichen Haltung muss man nach einem Besuchsversuch des Höllochs sprechen: Beschriftet zwar, aber geschlossen. Mit über 200km Länge eines der grössten Höhlensysteme der Welt. Ohne Hinweis, ohne Angabe von Öffnungszeiten. Keine Telephonnummer des Dorfpfarrers, wo man den Schlüssel holen könnte, kein „Danke, versuchen Sie es später nochmal“. Im Internet ist zu erfahren, dass man einen Besuch der Hölle nur „online“ buchen kann. Auch für den Eingangsbereich. Zum Herrgott geht`s unkomplizierter.

Die asphaltierte Strasse endet an der Talstation der Luftseilbahn. Die Kapazität von acht Personen alle 20 Minuten verhindert ein „Everybody-have-fun!“-Paradies auf der Glattalp. Der Alpwirt Edi und sein Sohn Christian schütteln jedem Gast, der vor der Hütte ein Bier oder einen Kafi mit Schnaps trinken kommt, die Hand und stellen sich vor. Hier steht kein Plakat des Bundesamtes für Corona-Pflege. Dafür steht und liegt anderes herum: Ein panzerähnliches Transportfahrzeug, ein Kinderspielwägeli mit einem Negerli drin, eine Motorsäge, ein Misthaufen neben den Gasttischen, und eine Militärwolldecke hält die Hintern der Einkehrer warm. Die Sau, die arme, muss sich mit zwei Quadratmetern Betonboden abfinden. Immerhin Südseite.

Weiter hinten ist „Landart“ zu besichtigen. Kunst am Gras, made by nature. Die Gebilde aus Karstfels sehen aus als wären sie als Ausstellung hingelegt worden und als würden sie die damals bekannten Kontinente darstellen.

Am gegenüberliegenden Hang des Talkessels finden sich weitere Alphütten, bzw. Alpwirtschaften. Mein Kraft- (und Milkshake-) Platz heisst „Waldi“. Da wird auf engstem Raum gezaubert. Und gearbeitet, vor allem. Die Sommerhilfe (Mai bis September) fühlt sich wohl hier oben. Es ist eine junge Frau aus den Niederungen des Aargau. Sie kennt inzwischen nicht nur alle Handgriffe, sondern auch alle Kühe und alle verstreuten Nachbarn. Der Alphirt lobt sie schmunzelnd, als er sich nach dem Melken zwischen den Kühen aus dem zu engen Stall herausquetscht. Übrigens sei nicht der Stall zu klein, sondern die Kühe seien halt heutzutage viel grösser.

Es sammelt sich ein gemischtes Völklein an, das auf den Alpen lebt. Da sind die „echten“ Älpler, die einheimischen, die das halbe Jahr hier oben verbringen und Ende August genau wissen, wo es im nächsten und letzten Alpmonat noch genügend Gras für die Kühe und Rinder hat. Bei ihnen scheint es, als gäbe es für sie die Frage nicht „Will ich das oder nicht?“. Die Berge geben die Antwort vor – sie sind ewig. Einer erzählt, er sei am Samstag zu einer Hochzeit eingeladen, also gehe er halt – in Gottes Namen – zu Fuss über den Berg, ohne Krawatte. Nicht nur für Hochzeitsabwesenheiten, sondern für den strengen Alltag überhaupt, sind sie auf Helfer angewiesen. Auf einer Internet-Plattform (!) werden diese Halbjahres-Stellen ausgeschrieben, auf dass sich ein fähiger „Niederländer“ darauf melde. Der Waldi-Älpler hat dieses Jahr Glück gehabt: Die Nadine aus dem Aargau hat sich nach der Matura nicht direkt für ein Studium entschieden. Sie hat eine Weltreise geplant – allein und mit dem Fahrrad. Vielleicht wäre sie jetzt in den Georgischen Bergen oder in der Ukrainischen Kornebene. Doch da das Jahr 2020 für alle, für Spitalangestellte und Sportler, für Diktatoren und Reisende eine irritierende Überraschung bereit hatte, hat sich Nadine für diese Alp-Erfahrung entschieden. Sie steht früh auf, holt die Kühe, schleppt die schweren Milchgefässe, macht Käse und Butter, bewirtet Gäste – alles selbstverständlich. Andere vor ihr hätten es schon mal nur eine Woche ausgehalten.

















 


Waldi: