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Freitag, 3. Juni 2022

On the road again

 






Abgegriffene Anglizismen – ich weiss.

 

Nach Monaten kretischen Beine-Streckens ist es a great pleasure, wieder on the road zu sein, mit dem Fahrtwind im Hirn und dem Unerwarteten in den Augen. „The answer, my friend, is…“ Sprachlich jedoch hätte ich mich besser bemüht, etwas mehr Griechisch zu lernen als nur Prost und Danke und Wasser und Brot. Vangelis und ich können uns allerdings gut unterhalten. Sein Englisch und mein Griechisch sind auf tiefem Niveau kompatibel. Die Gesprächsthemen sind es auch. Oberhalb des Dorfes beim Wasserreservoir wohne ich, und er kommt täglich herauf um an einem der Wasserhahnen zu drehen. Und Andere kommen auch und drehen ihrerseits daran… Es herrscht nicht immer Einigkeit. Wer dreht wann welche Leitung auf und nimmt wie viel Wasser? „Basics“ eben (wie sagt man auf Deutsch?). Um Basics drehen sich auch unsere Männergespräche. Beide sind wir gleich alt und reden über die böse Welt, das liebe Geld und über die Frauen, die nicht wollen, ohne dass wir selber sagen, ob wir wirklich eine wollen. Aber mehr Geld wollen wir, und der Raki ist zum Glück gratis, wenn man ihn selber macht. Vangelis lädt mich für den nächsten Tag zum Mittagessen ein und kramt, während die Hühnerschenkel brodeln, ein paar alte Fotos hervor. Nein, das sei nicht seine Frau, das sei eine erste Flamme gewesen, und er macht das internationale Zeichen für… , na, wofür denn? Und heute eben, ja, es ist wie es ist, und es ist eben nicht mehr. Die Hoffnung und das Verlangen sind zwar da, aber wohl mehr theoretisch und gewohnheitsmässig. Was soll man denn für andere Hoffnungen und Sehnsüchte haben? Man bleibt bei den Basics – am Wasserhahn kann man drehen, am Rakihahn auch, und für die Sehnsucht nach der Schürze von Sex und Geborgenheit gibt es zwar den noch offenen Hahn der ausgetrockneten Leitung in die Vergangenheit. Manchmal klettert Vangelis die Leiter hinauf um nach dem Wasserstand zu sehen. Halbvoll oder leer?



 

Nicht um Sex und nicht um Raki geht es beim letzten Ziel, das ich anpeile. Wasser jedoch nehme ich genügend mit. Auf fast 1000m gibt es eine traumhafte Hochebene, zu der sich eine schlechte Naturstrasse steil hinaufschlängelt. Die Landschaft der Ewigkeit, vor langer Zeit hingeworfen und liegengeblieben. Kurz davor, da, wo es noch Bäume gibt, ist „mein“ Platz, wo ich leben und sterben möchte, am liebsten beides gleichzeitig und ewig. Alles steht still, alles ist still, die Vögel und Insekten intonieren diese Stille, machen sie intensiver, und die Steinbrocken und Bäume tun nichts ausser da liegen und da stehen. Tagsüber ist es warm, nachts wird es kühl, am Morgen geht die Sonne auf, am Abend geht sie unter. Hier lebt die ewige Ruhe. Anders ausgedrückt: „Basics“.



Die Kreta-Zeit ist abgerundet. Im Schritttempo die engen Kurven hinunter und weiter zum Hafen von Hiraklion. Auf der Fähre nach Piräus entscheide ich mich fürs 1. Klasse-Restaurant mit weissen Tischtüchern. Am Morgen dann: On the road again! Zuerst aus dem endlos langen und endlos hässlichen Piräus hinaus (wer von hier ist schon mal auf einer Hochebene gewesen?), dann soll es möglichst auf Nebenstrassen nordwärts gehen Richtung mazedonische oder bulgarische Grenze. Jetzt passt es: Der Weg wird das Ziel sein. Heisse Ebenen und etwas kühlere Bergketten wechseln sich ab. Geschlafen wird „oben“. Es lassen sich immer wunderschöne Plätze für die Übernachtung finden, und nie stellt sich die Frage: „Darf ich hier?“ Die Landschaft ist da (zur Genüge), und die Haltung der Griechen ist ebenso offen. Das sind auch „basics“. Ich habe nachgezählt: über 70 Plätze sind es bisher auf der ganzen Reise, ein einziger offizieller Campingplatz war darunter (einer der drei überhaupt existierenden in Armenien, weil ich die Besitzer kenne), und nie hat sich irgendein Problem ergeben.   







Das schlicht Schöne lässt mich manchmal anhalten, oder das Irritierende und neugierig Machende – Kunst in der Landschaft. Oder auch das Zufällige wie jene Tankstelle: In der 35° heissen Ebene ist sie mehr als eine Tankstelle. Sie ist die Karawanserei von heute. Ein grosser, öder Asphaltplatz, die Zapfsäulen im Schatten unter dem Flachdach, eine Waschanlage, die rosten würde, wenn sie es könnte, zwei kaputte Trucks, das obligate Häuschen mit dem schmuddeligen Büro, unter dem Vordach ein grosser Getränke-Kühlschrank und drei, vier kleine Tische. Es fehlen nur die Geier, die darüber kreisen. Ich stoppe nicht zum Tanken, sondern weil dies der Ort ist, wo ich einen Kaffee trinken möchte. Kein Betrieb, keine Kundschaft, der Tankstellenwart sitzt an einem der Tischchen. Er hat eine Beige Blätter vor sich und scheint in irgendwelche Abrechnungen vertieft zu sein. Oben, unter der Store, ist ein Fernsehgerät montiert,  das helle Licht macht es schwierig zu erkennen, was gezeigt wird, der Ton ist ausgeschaltet. Es ist kein Fussballspiel, das gezeigt wird, sondern ein Gottesdienst. Die Einstellung der einzigen Kamera ist immer dieselbe, nämlich über die Hinterköpfe der Betenden hinweg nach vorn zum goldenen Käfig, worin sich die Zeremonienmeister würdig und kaum bewegen. Links oben auf dem Bildschirm läuft eine Zeituhr mit, wie man es von der Übertragung von Skirennen kennt. Die Hitze wirkt und lässt mich die Hundertstelsekunden sehen, die den seltenen Gesten oder Schritten so etwas wie Spannung verleihen. Die ganze Szene mit ihrer Ruhe erinnert mich an den Platz meiner letzten Tage in Kreta, hier die nichts messende Uhr, dort das begleitende Summen der Insekten. Als ich zum Tisch des Tankwarts gehe um den Kaffee zu bezahlen, zeigt er mir, woran er arbeitet. Es sind nicht Abrechnungen, sondern Psalmenblätter mit Noten und Versen, und er beginnt, mir leise und andächtig etwas daraus vorzutragen. Als Geschenk gibt er mir zwei dieser Blätter und eine frische Aprikose mit. „Andacht“ geht mir durch den Kopf, als ich nachher wieder über den heissen Asphalt rolle.  







Nun, es folgt der letzte Psalm über den letzten Tag in Hellas: Was macht man mit einem alten Kirchlein, das ausgedient hat und eingebettet ist ins Grüne zwischen hohen Bäumen? – Ein Restaurant! – Kommet zu Hauf! Und wo findet man den letzten Übernachtungsplatz in einer weniger einladenden Gegend, bestehend aus grossen Feldern und Transit-Dörfern, die statt Tavernen Pizzerias haben? – Beim Friedhof, wo unser aller Transit endet.