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Samstag, 11. Juni 2022

Weiter auf Nebenstrassen


 

 

 

 

 

Die Nebenstrassen sind die Hauptstrassen. Für mich.

Die Eindrücke bei 200km pro Tag mögen zwar oberflächlich sein, aber sicher bereichernder als auf Hauptrouten. Bulgarien, ein armes, schmutziges und gefährliches Land – so das oft geäusserte Urteil. An einer Tankstelle treffe ich auf Tony. Er schimpft mit einem, der drängelt und vor ihm an der Zapfsäule sein möchte. „Wir müssen uns für unsere Zukunft einsetzen, und bei solchen Dingen beginnt es“, erklärt er mir darauf.



Wenn man Bulgarien von Süden nach Norden durchquert, hat man es immer wieder mit Bergketten und daher mit kleineren oder imposanteren Pässen zu tun und mit Nadelwäldern bis hoch hinauf. Diese bieten sich als kühlere Übernachtungsplätze an. Noch kühler wird es, wenn auf der Passhöhe ein sehr heftiges Gewitter losgeht. Ich entscheide mich, langsam herunterzufahren. Die Strasse verwandelt sich in einen Bach von Wasser und Geröll. Unten angekommen lässt der Regen nach, jedoch auch ein Hinterreifen. Platt… Angenehme Situationen zum Reifenwechseln gibt es wohl nicht, aber schlimme und weniger schlimme. Und dann noch dies: Der Wagenheber ist verklemmt – nichts zu machen. „Zum Heiligen Antonius beten!“, hätte meine Grossmutter gesagt. (Aber Tony ist weit weg.) Statt Antonius hält Kasimir an. Er hat Flickzeug und eine 12-Volt-Pumpe. Er legt sich ins Zeug. Loch repariert. Wird es halten? Da entdeckt er ein zweites…, und ein drittes! Lässt sich die nächste Ortschaft erreichen? Nein, fünf Kilometer davor ist wieder Schluss. Gefährt samt Hund stehen lassen und per Anhalter nach Zlatitsa. Hier gibt`s ausser einem Storchennest nur eine Tankstelle mit einem netten, schulterzuckenden Tankwart.   


 

Nach einigen Fehlversuchen hält ein Auto. Zwei junge Frauen mit Hotpants, Tatoos und farbigen Fingernägeln, und mit etwas Englischkenntnissen. Ich solle hier am Strassenrand warten, in 5 – 10 Minuten seien sie wieder da. Dann kommen sie wieder mit einem Burschen, der es richten soll. Gut gemeint, aber wie denn? Nächste Idee: den Pannendienst rufen, koste aber etwas. Es klappt, das Reserverad wird montiert, und Bogi spielt mit Grameno. Die drei Jungen lassen sich weder einen Kaffee noch ein Bier aufdrängen, sie habe einfach helfen wollen, sagt Bogi. Und ob ich ihr die Fotos mit dem Hund schicken könne. In ihrer Antwort schreibt sie: „The good still exist, i believe in this“.



 

Wenn man Bulgarien durchquert, von Griechenland kommend und nach Rumänien gehend, ist spürbar, dass dieses Land rückständiger ist. Es hat sich die Atmosphäre aus der kommunistischen Zeit „bewahrt“. Der Wohlstand lässt sich ja auch an dem Verkehr messen. In Rumänien ist er sehr gross, und die Autos sind nicht nur alte Schrottwagen. So gesehen ist es angenehm, sich auf Bulgariens Strassen zu bewegen. Dazu fährt man durch schöne und ruhige Landschaften. Hat oder hätte man gewisse Ansprüche, müsste man diese zurückschrauben. Als ich in einer Kleinstadt frage, wo ich Zigaretten kaufen könne, zuckt man mit den Schultern. Das heisst nicht, dass keine erhältlich sind, ich finde, was ich brauche, aber die „Wo gibt`s was“-Frage bestimmt das Leben. Die Markthalle ist zu einem Foto-Sujet für den Vorbeireisenden verkommen.  Auch was den Strassen entlang feilgeboten wird, ist ein Indiz für den grossen Unterschied zu andern EU-Ländern. Menschen wie Chava, so heisst sie, verbringen den Tag, indem sie warten, bis sie ein Glas selbergemachte Konfitüre verkaufen können.  






 

Auf der Fähre über die Donau (von Bulgarien nach Rumänien) und nach zwei Tagen nochmals über eine Brücke (von Rumänien nach Bulgarien) bin ich der einzige Nicht-Lastwagen. Diese warten stunden- oder tagelang in einer 10km langen Reihe am Strassenrand auf die Abfertigung. Das hat (auch) damit zu tun, dass es sehr wenige Übergänge gibt. Den Fährenübergang, den ich zunächst anpeile, ist ausser Betrieb, weil das System wegen einer Internetpanne ausgefallen ist. Für wie lange? Was tun jetzt? 100km westlich befinde sich der nächste Fährenübergang und 150km weiter eine Grenzbrücke…  Im Gegensatz zu den vielen Lastwagenfahrern habe ich die Wahl. Sie aber nicht, da das Unternehmen keine zusätzlichen Kilometer zulässt. Also 100km auf schlechten Strassen der schönen, blauen Donau entlang. Wieder eine riesige Schlange von Lastwagen. Wieder darf ich an allen vorbeifahren und werde als erster auf die Fähre gewunken. Und wieder spüre ich, dass ich ein mehrfach Privilegierter bin. Ich reise, ich habe ein Fahrzeug, das bewundert wird, ich habe Geld in der Tasche und bin eben als Erster auf der Fähre. Die Chauffeure sagen mir, wann sie wo in welchem Land abladen müssen, wann sie für zwei Tage ihre Familie wieder sehen, sie reden über Fussball, die schlechte Politik und flachsen darüber, wo die Frauen am schönsten sind. Auf der Strasse sind sie oft unerbittlich: Sie überholen, wo es keinen Sinn macht, und sie hupen verärgert, wenn sie selber überholt werden. In diesem romantischen Moment bei Sonnenuntergang auf der Donau-Fähre beginne ich mit ihnen auf Bulgarisch, Griechisch, Türkisch und Rumänisch eine Diskussion über Ethik und Moral, über die richtige Politik und die beste Gesellschaftsform und den Sinn des Lebens überhaupt. Ich frage sie ganz direkt nach ihrem persönlichen Beitrag zu einer guten Zukunft. – Nein, das tue ich natürlich nicht. Und zwar tue ich es nicht aus Respekt, indem ich mir immer wieder dieselbe Frage stelle: Wie wäre mein Blick auf die Welt an ihrer Stelle? Und ich bin mir bewusst, dass ich ein weiteres Privileg habe: Ich habe nicht nur mehr Freiheit im alltäglichen Leben, ich habe auch mehr Freiheit im Denken. Bin ich überheblich? – Ich möchte verstehen und realistisch sein.    




 

Es gibt viele Begegnungen, von denen es in den so fortgeschrittenen Ländern wie in meinem weniger gibt. Ein letztes solches Erlebnis habe ich heute morgen: Ein Mann kommt aus dem Wald heraus, da wo ich über Nacht war, beginnt zu reden, was und woher und wohin, schenkt mir einen der Pilze, die er soeben gesammelt hat und wünscht mir gute Reise. Und: Ich solle doch in der Schweiz erzählen, dass es (wörtlich!) „viele gute Menschen unter ihnen gebe!“  – Ja, ich werde es ausrichten. Es soll auch ein Fazit sein der letzten elf Monate!